Leseprobe
aus Othersides: Die Reise
Wie alles begann
Ich heiße Erin. Ich bin Maranerin, doch mein Name stammt aus dem verhassten Norden. Warum meine Mutter mich so nannte? Nun, ich habe eine Vermutung. Den Norden hasste sie bei weitem nicht so sehr, wie es sich für ihre Landsleute gehört. Sie war sogar schon jenseits der Grenze! Leider kam sie von einer ihrer Reisen nicht mehr zurück. Es heißt, ihr Schiff sei gesunken. Ich glaube, es war anders. Ich glaube, sie hatte einen Plan, der unserer Regierung nicht gepasst hat. Sie wollte unsere Länder wiedervereinigen und all dem Hass und der Abschottung ein Ende setzen.
Wie kann es sein, dass wir in Laguna Mar in unseren Türmen aus Glas und Stahl sitzen, uns von Robotern bedienen und uns eine künstliche Umgebung anzeigen lassen, während hinter der Mauer das echte Leben ist? Ein ganz anderes Leben, als wir es kennen.
Woher ich das weiß? Auch ich habe diese Reise unternommen.
Das habe ich Felicitas zu verdanken, meiner ehemaligen Professorin. Sie gab mir den Schlüssel zu einem vergessenen Areal – mit einem Grenzübergang.
Dort gab es noch etwas anderes: Eine Höhle mit einer Tür, die niemand öffnen kann, und eine Botschaft, an die Wand geschmiert mit Blut. Aber das ist wohl eine andere Geschichte.
Hier gibt es Magie. Magie! Könnt ihr euch das vorstellen? Ich konnte es selbst nicht glauben.
Alles begann, als ich in Vambori Ilya und Baldu begegnet bin.
Nicht freiwillig wohlgemerkt – die beiden sollten mich zu meiner Hinrichtung bringen!
Ja, ich gebe zu, es war keine besonders gute Idee, als Maranerin geradewegs in ein agambeanisches Dorf hineinzulaufen.
Ich hatte jedoch verdammtes Glück: Ilya und Baldu hatten ihre eigenen Pläne mit mir. Sie stellten mich ein paar Freunden aus der KKE vor, einer Gruppe, die für die Wiedervereinigung des Kontinents kämpft.
Auf einmal hatte ich Verbündete.
Ilya hat mich sogar in die Gärten Yamodars begleitet, schon wieder so eine blöde Idee von mir! Eine Postkarte, die ich unter den Hinterlassenschaften meiner Mutter gefunden, und später an einem anderen Ort wiedergesehen habe, hat mich zu diesem verwunschenen Ort geführt.
Wir gerieten dort in die Fänge einer Schlingpflanze – einer magischen Schlingpflanze, wie ich später herausfand.
Dann war da noch diese Frau im roten Kapuzenmantel, die – statt uns zu helfen – seltsame Dinge gesagt hat. Wartet, es ging in etwa so:
»… dem Mann im Berg wird niemals kalt,
der Mann im Berg wird niemals alt.
Zauberer und Königin,
erkennt allein den wahren Sinn.
Der letzten Erben Fünf müsst sein,
um euch von seinem Fluch zu frei’n …«
Wir hatten natürlich nicht die geringste Ahnung, was wir damit anfangen sollten – wobei Ilya ein wenig mehr zu wissen schien als ich. Er konnte uns jedenfalls befreien. So verließen wir den Garten und mit ihm den einzigen Hinweis darauf, was meine Mutter im Norden gesucht oder geplant haben könnte.
An diesem Punkt war für mich jedoch klar, dass ich nicht einfach wieder nach Hause konnte, noch nicht. Ich wollte mehr über dieses faszinierende Land erfahren. Und über Ilya. Ilya! Ich gebe zu, er hat mir ganz schön den Kopf verdreht. Als wir uns geküsst haben, im Steinteich! Da hätte ich fast die Elfe vergessen! Ja, ihr hört richtig: Ich war bei der Geburt einer Waldelfe dabei. Jetzt habe ich einen Wunsch frei, meint Ilya jedenfalls.
Tja, nach diesem Ereignis konnte ich keine andere Erklärung mehr finden: Magie ist real! Und das Verrückteste: Ich selbst soll eine Magierin sein, denn ich habe spitze Ohren, ein Zeichen für meine Verwandtschaft mit den großen Elfen. Noch etwas, das man uns in Laguna Mar völlig verschwiegen hat. Dabei wurde unser gesamter Kontinent einst von Elfen bewohnt und wir Elfischen sind ihre Nachfahren. Aber theoretische magische Fähigkeiten hin oder her – ich kann sie nicht einsetzen, zumindest nicht ohne Hilfe.
Unsere Reise ging weiter, denn ich hatte beschlossen, Ilya zum Generaltreffen der KKE in Brock, jenseits der Berge, zu begleiten.
In Madora bekamen wir Probleme. Wir haben bloß Flugblätter für die KKE verteilt, doch die Truppen der KEN, einer neuen Gruppierung, deren Pläne wir noch nicht so recht durchschauen, wollten uns festnehmen! Zum Glück schafften wir es einmal mehr, zu entkommen.
Dass Ilya dabei seine magischen Fähigkeiten zur Hilfe nahm, verstand ich damals noch nicht.
In der Nähe von Madora begegneten wir auch Melethriel, einer agambeanischen Prinzessin, die von der KEN gefangen genommen worden war, weil sie sich ihnen nicht hatte anschließen wollen. Sie berichtete uns von den Methoden der KEN. Äußerlich wollten sie das Gleiche wie wir: die Wiedervereinigung des Kontinents. Allerdings wollten sie diese unter der Führung Agambeas und mit Mitteln, die wir nicht billigen konnten, erreichen. Melethriel war nun auf der Flucht vor ihnen. Wir boten ihr an, mit uns zu kommen.
Auch Miranda stieß zu unserer Gruppe. Während ich mich mit Melethriel schnell anfreundete, blieb Miranda mir immer ein wenig suspekt. Ich glaube, dass sie eigentlich ganz nett ist, aber manchmal wirkt sie so verschlossen und fast … gequält.
Ähnlich verhielt es sich mit Ilya. Immer, wenn wir uns ein wenig näherkamen, war er kurz darauf wieder kühl und abweisend. Dass da etwas nicht stimmte, vermutete ich ja schon länger. Es dauerte allerdings, bis ich wirklich dahinter stieg.
Die Reise nach Brock war ein Abenteuer. Erst wären wir fast mit dem Gleitflieger abgestürzt, dann beinahe von Aggressiven Schwämmen ausgesaugt worden. Was für eklige Biester! Einer hat Miranda erwischt. Zum Glück konnte Ilya dem Monster die Zähne wegzaubern. Spätestens da war mir natürlich klar, dass Ilya gewisse magische Fähigkeiten hat.
In Brock merkte ich, wie respektvoll alle mit ihm umgingen, und dass sie ihn teilweise mit einem anderen Namen ansprachen: Cormac. Manchmal war er auch länger bei irgendwelchen »Terminen«.
Schließlich fragte ich Melethriel danach. Die wusste längst Bescheid: Ilya ist nicht nur ein Magier, er ist der bedeutendste Magier des Nordens, Erbe der Hajari-Dynastie, einer Gruppe nichtelfischer Magier, deren Fähigkeiten weit über die von Elfischen hinausgehen.
Zu allem Überfluss ist er auch noch der Letzte seiner Art. Alle erwarten nun, dass er seine Cousine Fiona, ebenfalls eine Hajari, heiratet, damit es noch eine weitere Generation geben kann. Und ich war so blöd, mich in ihn zu verlieben. Autsch!
Ich war erst mal ziemlich frustriert und zog allein durch Brock. So lernte ich die Kobolde aus der Küche kennen. Sie waren auch enttäuscht von Ilya, denn sie hatten mit einigen magischen Störgeschöpfen zu kämpfen, die er längst hätte beseitigen sollen. Kurzer Hand schickte ich ihn dorthin.
Was ich nicht wusste: Das Ganze war ein Ablenkungsmanöver. Jemand hatte dort einen manipulierten Flammenfresser platziert, der explodierte und ein Riesenchaos anrichtete. Während alle Magier Brocks mit Aufräumen beschäftigt waren, muss jemand – wir wissen noch immer nicht, wer – zwei Schwarzmagiern Zugang zur Stadt verschafft haben.
Das Unglück nahm seinen Lauf: Wenig später wurde Melethriel entführt.
Ilya und ich haben uns gemeinsam mit Miranda auf die Suche gemacht und die beiden Magier, Montague und Reeves, in einer Lagerhalle festgesetzt. Na ja, Ilya hat sie festgesetzt, ich lag da schon bewusstlos am Boden.
Ilya hat sich tausendmal entschuldigt. Er meint mittlerweile, irgendjemand habe ihn beeinflusst, mich dorthin mitzunehmen. Jemand mit mentalen Fähigkeiten, vermutlich dieselbe Person, die den Schwarzmagiern geholfen hat, in die Stadt einzudringen … und schließlich auch zu entkommen.
Nur kurz hat Ilya nicht aufgepasst, weil er nach Melethriel gesehen hat, da waren die beiden Schwarzmagier auch schon weg – mitsamt dem Käfig, in den Ilya sie eingeschlossen hatte! Sie haben uns eine nette Überraschung hinterlassen: Plötzlich waren wir die Gefangenen, umschlossen von einem Dajira-Kreis.
Ilya konnte uns nicht befreien, auch nicht mit dem Zauberstab seines Vaters, den er sich von Montague zurückgeholt hatte. Er war einfach nicht stark genug. Nicht so stark wie sein Bruder Eliard, den Montague ermordet hatte, und auch nicht so stark wie sein Vater Rickward, den Montague mit der Ermordung Eliards hatte bestrafen wollen.
Denn Rickward war für den Unfalltod von Montagues kleiner Schwester verantwortlich, aber nie dafür zur Rechenschaft gezogen worden.
Ich glaube mittlerweile, diese Magier haben alle eine Leiche im Keller.
Damit nicht auch wir zu Leichen im Keller wurden, mussten wir uns etwas einfallen lassen. Miranda hatte schließlich die zündende Idee: Ich musste Ilya helfen. Dabei hatte ich nie gelernt, Magie anzuwenden! Irgendwie – ich weiß bis heute nicht, wie – haben wir es geschafft. Wir waren frei und Brock stand noch.
Über die Absichten der Schwarzmagier konnten wir nur wenig herausfinden. Es war ihnen nie um Melethriel gegangen, und auch die Rache an Ilyas Sippe kann nicht ihr einziges Ziel gewesen sein. Vermutlich hatten sie es auf die gesamte KKE abgesehen. Mittlerweile wissen wir, dass sie mit den KEN in Verbindung stehen. Was das zu bedeuten hat, ist uns aber nicht klar.
Angeblich sollen sie auch an mir interessiert gewesen sein und irgendwelche Informationen in meinem Kopf gesucht haben. Eine gruselige Vorstellung.
Ich verstehe nicht, was die Leute so interessant an mir finden. Auch Thelal, die Anführerinnen der KKE, wollten unbedingt wissen, wer meine Mutter war. Was spielt das denn für eine Rolle? Bei uns in Laguna Mar sind alle gleich.
Ich bin sehr gespannt, wie Ilya meine Heimat finden wird. Nicht mehr lange, und ich werde dorthin zurückkehren, zusammen mit ihm und ein paar weiteren Leuten von der KKE. Unsere Mission ist es, neue Mitglieder in Laguna Mar und Jawhara zu gewinnen. Endlich kann ich all meine Freundinnen und Freunde wiedersehen und ihnen vom Norden erzählen. Die werden Augen machen!
Erstes Kapitel
– AM UFER DES FLUSSES ELLA –
Es war ein wirklich schöner Frühlingstag. Die Sonne schien und die Vögel zwitscherten über den saftig grünen Hügeln von Avanindra.
Die neunköpfige Gruppe der KKE hätte dies sicherlich genießen können, hätte sie nicht gerade erst eine äußerst anstrengende und gefährliche Bootsfahrt auf dem reißenden Oberlauf des Ella hinter sich gebracht. Und dies war nur die kleinste Etappe auf ihrer langen Reise vom KKE-Stützpunkt in Brock über den Fluss und schließlich übers Meer bis nach Laguna Mar und Jawhara.
Zunächst hatte auch niemand von ihnen einen Blick für die Schönheit der avanindrischen Stadt übrig, die nicht weit von dem Kiesstrand entfernt lag, an dem sie die wackeligen Kanus an Land gezogen hatten. Hier gab es ein paar kleine Transportboote, eine Fähre und etwas flussabwärts ein durchaus beachtliches Segelschiff, das für ihren weiteren Transport vorgesehen war. Doch statt dieses zu bewundern oder zu bemängeln, ließen sie sich in das weiche Gras eines Hügels sinken und kamen zu der stillen Übereinkunft, erstmal ein Mittagsschläfchen zu machen. So lagen sie gemeinsam da und hätten für einen zufällig vorbeikommenden Passanten mit Sicherheit ein äußerst ungewöhnliches Bild abgegeben: Erin, Mariah und Felicitas aus Laguna Mar, Alima und Hadiya aus Jawhara sowie Melethriel, Miranda, Sadwen und Ilya aus Agambea.
Lediglich die beiden Agambeaner waren von dem Schläfchen ausgeschlossen, denn sie hatten aufgrund ihrer magischen Fähigkeiten die leidige Aufgabe, Wache zu halten.
Sie unterhielten sich ein wenig über die vergangenen Ereignisse. Natürlich war der Angriff der Schwarzmagier Montague und Reeves noch immer ein Thema, das Rätsel aufwarf. Ilya hatte auch nicht wirklich seinen Teil beigetragen, um die Verwirrung zu minimieren. Von Montagues Groll auf seinen Vater Rickward Berklavs hatte er nichts erwähnt. Dieser sprach zwar seit längerem nicht mehr mit seinem Sohn, aber seinen eigenen Vater wegen seines Fehltritts bloßzustellen, das ging Ilya doch zu weit. Es konnte eine Untersuchung nach sich ziehen. Für einen amtierenden Hajari in voller Würde wäre das vielleicht kein Problem, diese wurden üblicherweise sehr nachsichtig behandelt. Schließlich war es nicht immer zu vermeiden, dass ihnen während der Ausübung ihres Berufes ein Missgeschick passierte. Aber einer, der wie Ilyas Vater seines Amtes enthoben worden war? Da sah es unter Umständen anders aus.
»Ich empfand Erins Beitrag zu eurer Errettung als sehr beachtlich für eine unausgebildete Elfische«, gab Sadwen, der selbst ein elfischer Magier und Heiler war, zu bedenken. »Was meinst du, ob wir in Laguna Mar auf viele Elfische treffen werden? Oder gar auf Hajari-Magier?«
Ilya schüttelte den Kopf. »Elfische schon möglich, aber Hajari wohl kaum, schließlich müssten sie aus der Linie des Agrippa stammen. So etwas wäre uns wohl bekannt.«
»Bist du dir sicher? So, wie ich eure Gepflogenheiten kenne, neigt ihr dazu, einen Hajari aus eurem Gedächtnis zu tilgen, sobald er etwas tut, das nicht mit euren eisernen Regeln konform ist, nicht wahr? Wer weiß, wie viele es noch gibt? Wie viele mit dem Talent doch ohne Anerkennung?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Ich lasse lediglich meinen Gedanken freien Lauf.«
Ihr Gespräch wurde jäh unterbrochen, als ein Mann über die Hügelkuppe gerannt kam. Ilya und Sadwen sprangen sofort auf.
Was da auf sie zukam, konnte man wohl am ehesten als einen ›schrägen Vogel‹ bezeichnen. Es war ein alter Mann, sehr alt sogar, mit einem langen, grauen, etwas ungepflegten Bart, in dem Holzperlen und Federn hingen. Und wer wusste schon, was sich noch alles darin verbarg, so voluminös wie dieser Bart war? Sein langes Haar wirkte dagegen fast zurückhaltend. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen Kapitänshut, der etwas verstaubt war, und – dazu sehr unpassend – einen blau karierten Bademantel.
»So, ihr Landratten!«, rief der Fremde. »Sagt bloß, euch hat das Bisschen mit’m Kanu schon so erledigt!« Er stemmte die Hände in die Hüften. Wer bis dahin noch nicht wach gewesen war, war es jetzt.
Miranda und Melethriel blickten verwirrt auf. Alle drehten die Köpfe in Richtung des Neuankömmlings.
»Ich bin der Kapitän, den ihr angeheuert habt«, erklärte der Alte mit dem faltigen, wettergegerbten Gesicht. »Entschuldigt meinen Aufzug, bin gerade erst aufgestanden. Is aber auch früh, nich? Ihr seht ja auch noch ganz verschlafen aus.«
»Es ist Mittag …«, zischte Miranda und schaute geringschätzig zu ihm auf.
Felicitas, Erins ehemalige Professorin, erhob sich und ging auf den Mann zu. Sie war von Thelal damit beauftragt worden, die Unternehmung zu leiten. Ursprünglich hätte Ilya das tun sollen, doch ihre Anführerinnen hatten sich in letzter Sekunde umentschieden.
»Ich bin Felicitas Sanchez«, stellte sie sich vor. »Ich dachte, wir hätten eine ganze Crew angeheuert?«
»Nein, nur mich und Whiskey!«
»Whiskey?«
»Oh, kleines Missverständnis.« Der Alte lächelte verschmitzt. »Whiskey ist der Name meines Navigators. Von ihm abgesehen wird sich kein Whiskey an Bord befinden, das versichere ich euch.«
Felicitas nickte. »Also gut. Was ist mit der Crew?«
»Die Crew seid ihr. Für weitere Leute gibt es keinen Platz. Aber ihr bekommt das sicher hin, habt ja ‘nen guten Käpt’n. Nur eins muss ich gleich klarstellen: Sobald wir auf meinem Schiff sind, habe ich das Sagen. Wir lassen uns hier auf eine ziemlich verrückte Reise ein, da brauche ich die Sicherheit, dass es keine Diskussionen gibt, wenn es haarig wird.«
»Natürlich, Ihr habt das Kommando«, versicherte Felicitas ihm. »Nun denn, lasst uns gehen. Oder müssen wir noch auf den Navigator warten?«
»Oh, nein, den habe ich immer bei mir.« Der Kapitän klopfte sich auf die Schulter.
Felicitas schüttelte bei dieser Aussage nur den Kopf.
– ERIN –
Erin und die anderen waren nicht begeistert. So ganz bei Verstand war der ja wohl nicht! Sie hofften nun, dass das Schiff in einem besseren Zustand war als dieser Mann.
Das konnte man so oder so sehen. Ein altes Segelschiff von dieser Größe machte schon etwas her. Es war dreißig Meter lang und hatte zwei Masten. Groß genug für ihre Gruppe, wendig genug für den Fluss.
Alle Segel waren zusammengerafft, und es sah nicht so aus, als ob sie in letzter Zeit benutzt worden wären. Die aufgerollten Stoffwülste hatten auf der Oberseite schon ein helles Grüngrau angenommen, ganz im Kontrast zu dem kräftigen Dunkelgrün auf der Unterseite. Auch die Lackierung des Schiffskörpers war nicht mehr in tadellosem Zustand, doch man konnte sehen, dass es einst ein prachtvolles Schiff gewesen war.
Die Reaktionen der Gruppe waren recht unterschiedlich. Die einen schauten voller Staunen auf das Schiff, die anderen voller Skepsis und Angst.
»Damit sollen wir in die Südstaaten kommen?«, brüskierten sich einige.
Andere riefen verblüfft: »Oho, ich habe noch nie ein so großes Schiff gesehen!«
Erin hatte schon deutlich größere gesehen. Sie konnte sich nicht so recht für eine Meinung entscheiden. Als Maranerin war sie Schiffen generell nicht abgeneigt. Etwas wie das hier jedoch kannte sie nur aus dem Geschichtsunterricht. Das waren noch ganz andere Zeiten gewesen, als man in Laguna Mar mit Schiffen gereist war, die sich allein auf Windkraft verlassen hatten. Keine Motoren, keine Batterie zum Zwischenspeichern. Wenn es keinen Wind gab, kam man auch nicht vorwärts. Flussabwärts würden sie hiermit wohl noch kommen, aber ab da waren sie den Launen der Natur völlig ausgeliefert. Im Grunde gab es nichts Unmaranischeres als das.
»So, wer von euch Landratten hat denn Segelerfahrung?«, fragte der Mann, dessen Namen sie noch immer nicht erfahren hatten. Niemand meldete sich.
»Was, nicht einmal die Maraner?« Er schaute Felicitas, Mariah und Erin an.
»Nur in der Theorie«, erklärte Felicitas. »In Laguna Mar ist das Segeln aus der Mode gekommen.«
»Mmm, bedauerlich. Aber auch kein Weltuntergang. Alles, was ihr tun müsst, ist meine Anweisungen zu befolgen. Also, alle mal die Lauscher aufgesperrt!«
Der Mann hielt ihnen nun einen ausführlichen Vortrag über das Schiff. Es trug den Namen »Zamzamah«, ein Jawharanischer Begriff, der in etwa ›Wirbel aus Feuer‹ bedeutete. Wie es zu einem solchen Namen gekommen war, konnte er ihnen nicht erklären. Es war ein Plattbodenschiff mit wenig Tiefgang und hatte insgesamt vier Segel, zwei Hauptsegel und zwei Vorsegel. Die Aufgaben der Crew würden vor allem darin bestehen, die Segel zu setzen oder zu reffen sowie die Seitenschwerter herabzulassen. Dazu teilte er sie in Gruppen mit verschiedenen Zuständigkeiten ein. Waren sie an der Reihe, mussten sie in ständiger Bereitschaft sein. Davon abgesehen hatten sie noch andere Aufgaben, wie Putzen und Kochen, zu übernehmen. Für das Steuern seien er und sein »Whiskey« allein verantwortlich, erklärte der Alte. Er am Tage, Whiskey in der Nacht.
Niemand traute sich, zu fragen, was es mit diesem Whiskey auf sich hatte.
Die Gruppe betrat das Schiff über eine an Land fest installierte Holztreppe, die so aussah, als stünde sie schon länger dort. Überhaupt machte das Boot den Eindruck, als habe sich jemand häuslich darauf eingerichtet. Auf Bänken an Deck standen jede Menge Topfpflanzen und Gießkannen. Unten in der Messe zeichnete sich ein ähnliches Bild ab. Topfpflanzen, Vasen und kleine Deckchen auf Schränken und Tischen erweckten nicht den Anschein, dass das Schiff sich besonders gut auf See machen würde, und bestärkten den Eindruck, dass es ihrem Kapitän vornehmlich als Wohnung diente.
Miranda rümpfte die Nase. »Sollen wir das hier nicht besser wegräumen?« Sie deutete auf die Dekoration.
»Wegräumen, wieso? Ach so, ja, könnte umfallen, was? Na gut, dann helft mir alle mal.«
*
Bevor die Reise losgehen konnte, mussten sie noch Proviant besorgen. Ilya schlug vor, dazu auf den Markt der nahegelegenen Stadt Eldessar zu gehen. Sie könnten das mit einer kleinen Besichtigungstour verbinden, schließlich sei der Ort sehr sehenswert, und er habe noch eine Überraschung für sie alle. Felicitas war damit einverstanden, dass die meisten Nordreichischen gingen, äußerte aber Bedenken, was Prinzessin Melethriel, die nach wie vor steckbrieflich gesucht wurde, sowie die Südstaatlerinnen betraf.
»Wir würden aber so gerne«, protestierten Alima und Hadiya. »Wir kennen bisher kaum etwas von Avanindra. Wie sollen wir denn zu Hause von diesem schönen Land berichten, wenn wir nichts gesehen haben?«
Die Südreichischen ließen sich nicht davon abbringen, mitzugehen, und so wurde darüber beraten, wie sich am besten zu tarnen sei. Erin hatte eine Idee. Sie griff auf etwas zurück, das sie schon fast vergessen hatte: das Puderdöschen von Frau Purins, das sie bei ihrer Ankunft in Brock in ihrer Manteltasche wiedergefunden hatte. Es erfüllte seinen Zweck und ließ alle Maranes und Jawharanes unauffällig nordstaatlich-hell aussehen. So vorbereitet und zusätzlich in Kapuzenmäntel gehüllt, machten sie sich auf den Weg in die Stadt.
Ein schmaler, gepflasterter Pfad führte sie vom Liegeplatz des Schiffes weg und in die Hügel hinein. Vereinzelt tauchten die landestypischen Häuschen auf; klein und einstöckig mit großem Strohdach, umgeben von meist überwucherten, bunten Gärten voller blühender Büsche und Bäume. Je näher sie dem Stadtzentrum kamen, desto dichter standen die Häuser. Als es langsam dunkel wurde, gingen überall Lichter an, nicht nur in den Fenstern und Straßenlaternen, sondern auch mitten in der Luft! Manche standen einfach an einem Punkt weit oben, andere schwirrten schnell an ihnen vorbei und hinterließen Streifen aus bunten Farben. Jedes hatte einen anderen Farbton: Zitronengelb, Grasgrün, Fliederlila, Himmelblau … Was war das nur? Eine besonders farbenfrohe Art der Glühwürmchen?
Der Marktplatz befand sich in einer Senke zwischen vier Hügeln, die alle dicht bebaut waren. Schon in der Gasse, die sie dorthin führte, gab es einige Marktstände aus Holz. Sie waren mit Blumengirlanden dekoriert und ebensolche hingen über den Straßen. Der Platz selbst war rund, gepflastert und von im Kreis angeordneten Säulen umgeben, die ebenfalls mit Girlanden behangen waren. Rundherum gab es weitere Marktstände, ebenso wie Verkaufsstände für Sommerwein und andere, landestypische Getränke. In der Mitte war eine Bühne aufgebaut worden, und es spielte eine Band.
»Sie feiern den ersten Tag des Sommers«, erklärte Ilya, als sie den übervollen Platz betraten, »und das eine ganze Woche lang.« Er deutete nach oben, und nun erkannte Erin, was diese bunten Lichter waren: winzige, leuchtende Gestalten mit flatternden Kleidern und wehenden Haaren. Es handelte sich um eine Art von kleinen Elfen! Mitten in der Luft schienen sie zu ihrer ganz eigenen Musik zu tanzen.
»Das sind Luftelfen«, klärte Ilya sie auf. »Sie sind immer zum Sommeranfangsfest hier.«
»Wow«, staunte Erin.
Ilya lachte. »Da habe ich nicht zu viel versprochen, was?«
Die anderen mischten sich unter die Leute, schauten sich an, was es an den Ständen gab, oder beobachteten einfach die Luftelfen.
»Vergesst nicht, wir müssen noch einkaufen!«, rief Felicitas ihnen hinterher. »Der Markt geht nur bis Mitternacht!«
Ilya fasste Erin bei der Hand und zog sie in eine Seitengasse. »Komm, wir machen einen kleinen Abstecher zu meinem Großvater.«
»Dein Großvater?«, fragte sie verdutzt. »Der wohnt hier?« Oder besser gesagt: Der lebt noch? Bisher hatte Ilya ihn nie erwähnt.
»Ja, so ist es. Das sollen bloß nicht alle mitbekommen, sonst würden sie bald bei ihm Schlange stehen. Er ist viel zu alt, um noch die Pflichten eines Hajari zu erfüllen, daher hat er sich vor einigen Jahren unauffällig zurückgezogen.«
Ilyas Familie warf immer wieder Rätsel für Erin auf. Sie hätte sich für einen Ausflug mit ihm allein ja etwas anderes erhofft, aber gut, dann gingen sie jetzt seinen Opa besuchen.
»Er wohnt weiter oben, hier rauf.« Erin folgte Ilya eine Treppe zwischen den Häusern hinauf. Kurz vor der Hügelkuppe bogen sie nach links ab, um einem schmalen, mit Unkraut bedeckten Steinpfad zu folgen. Er führte an knorrigen Bäumen, moosbewachsenen Mauern und einigen Gartentoren vorbei. Vor einem besonders ungepflegten Vorgarten mit zerfallendem Holztor, überwucherter Mauer und jeder Menge Unkraut blieben sie stehen.
Ilya öffnete das Tor, und sie gingen über einen kaum zu erkennenden Weg zur Haustür, von der die grüne Farbe bereits abblätterte. Neben der Tür hing eine rostige Glocke, die Ilya jedoch ignorierte. Er trat einfach ein, es war nicht abgeschlossen. Der Flur war eng und niedrig. Auf einer kleinen Kommode stand eine Vase mit vertrockneten Blumen; an der Garderobe hingen ein Regencape und ein Hut.
Ilya ging zielstrebig weiter zu einer Tür, die einen Spaltbreit offenstand. Sie betraten einen Raum im hinteren Teil des Hauses, der, durch die niedrige Decke bedingt, gemütlich und bedrückend zugleich wirkte. Durch das große Sprossenfenster gegenüber, das sich gerade so über dem Bodenniveau befand, konnte man auf die Wiese hinter dem Haus blicken. In einer Ecke des Raumes befand sich um einen Kachelofen herum angeordnet eine Sitzgruppe aus grün gemusterten Sofas und Sesseln.
Auf einem der Sessel saß Ilyas Großvater.
Galadrius Berklavs sah wirklich sehr alt aus. Er war klein und mager, hatte ein faltiges Gesicht mit einer langen Nase, einen kurzen, eher dünnen Bart und lange, weiße Haare, von denen er die vorderen Strähnen mit einem Lederband zurückhielt.
– ILYA –
›Genauso wie Eliard‹, dachte Ilya. Die Ähnlichkeit mit seinem verstorbenen Bruder war unverkennbar. Sein Großvater trug eine einfache braune Robe, die ihn noch dünner erscheinen ließ, als er ohnehin schon war.
»Ah, Ilya«, sagte Galadrius leise und keineswegs erstaunt. »Da bist du ja wieder. Und wen hast du uns mitgebracht? Eine Maranerin, dazu noch eine Elfische? Bemerkenswert. Oder vielleicht gar nicht so sehr, nicht wahr …«
»Das hast du gut erkannt«, entgegnete Ilya. Seinen Großvater konnte man nach wie vor nicht täuschen, Tarnung hin oder her. Wo ihn sein Gehör und seine Augen langsam verließen, wurden andere Sinne stärker. »Das ist Erin.«
»Hallo Erin«, sagte er. »Sehr erfreut. Setz dich doch bitte. Wie gefällt es dir in Eldessar?«
Galadrius verwickelte Erin direkt in ein Gespräch und fragte sie über alles Mögliche aus, während Ilya sich dem Bücherregal zuwendete. Er war auf der Suche nach etwas Bestimmtem und hörte nur noch mit einem Ohr zu.
»Dann magst du es, durch den Norden zu reisen?«, fragte Galadrius Erin.
»Ja, sehr. Es ist so groß und so abwechslungsreich. Ganz anders als Laguna Mar.«
»Was ist der deutlichste Unterschied zu deiner Heimat?«, flüsterte er nun fast, sodass es für Ilya am anderen Ende des Raumes kaum noch zu hören war.
– ERIN –
Ilyas Großvater schien sich wirklich dafür zu interessieren. Dabei war die Frage gar nicht so leicht zu beantworten. Erin hatte jedoch schon länger darüber nachgedacht, und nun kristallisierte sich eine Antwort heraus, die sie zum ersten Mal in Worte zu fassen versuchte: »Es ist erstaunlich, durch unsere vielen technischen Errungenschaften halten wir Maranes uns für überlegen und für ein freies Volk. Dabei haben sie uns am Ende vielleicht eher das Gegenteil verschafft. Wir sind ziemlich unfrei, denn bei uns sieht alles gewissermaßen gleich aus, und alle verhalten sich gleich. Das ist zu einer Art Zwang geworden, der uns selbst kaum noch auffällt. Eigentlich werden wir – alle von uns, zu jeder Zeit – überwacht. Das sollte uns beunruhigen, tut es aber nicht. Dagegen habe ich den Eindruck, dass die Menschen im Norden viel freier sind als wir.«
»Ja, den Anschein mag es wohl erwecken, aber glaube mir, die Menschen im Norden sind genauso wenig frei. Auch wir haben unsere Zwänge, Konventionen und Vorurteile. Und es gibt leider Kräfte, die daran arbeiten, das noch zu verschlimmern. Nun denn, Themenwechsel: Wie findest du unseren Ilya hier?«
»Oh«, gab Erin von sich. Diese Frage war vielleicht noch schwieriger zu beantworten als die vorherige, zumal derjenige, den es betraf, auch noch anwesend war! Aber Ilya schien ziemlich beschäftigt zu sein.
»Er ist ein außergewöhnlicher Mensch mit viel Tatendrang. Wenn er einen Traum hat, dann versucht er ihn mit allen Mitteln zu verwirklichen. Dabei ist er besonnen und gerecht. Na ja …« Sie lachte. »Manchmal muss man ihn darauf stoßen, aber dann tut er das Richtige. Ein wenig waghalsig ist er auch.«
Galadrius lächelte. »Ja, da hast du wohl recht.« Dann stand er langsam und vorsichtig auf. »Wenn du uns für ein paar Minuten entschuldigen würdest? Ich muss kurz mit Ilya ins Nebenzimmer. Möchtest du eine Tasse Tee und Kekse?«
»Sehr gerne.«
»Bedien dich«, sagte Galadrius und wendete sich zum Gehen. Ilya sah Erins verwirrten Gesichtsausdruck und fügte zur Erklärung hinzu: »Selbstdeckender Teetisch.« Sofort stieg der Geruch frisch aufgegossenen Tees in ihre Nase, und sie richtete ihren Blick auf das Tischchen vor ihr. Dort standen tatsächlich eine dampfende Tasse Tee und ein Teller voller Kekse. Diese verrückten Nordstaatler!
Erin nahm einen Schluck, dann erhob sie sich, durchquerte den Raum und schaute aus dem Fenster. Sie konnte einen seitlichen Blick auf den hell erleuchteten Festplatz weit unten erhaschen und sah vor allem die in bunten Farben leuchtenden Elfen, die nicht nur direkt oberhalb der Tanzfläche, sondern auch überall am Himmel verteilt herumschwirrten. Ihre Augen folgten einem Elfenpaar in Zitronengelb und Tannengrün, das sich spiralförmig immer weiter hinauf in den schwarzen Nachthimmel wand, bis es nicht mehr zu erkennen war.
Erin ging zurück zum Sessel und trank ihren Tee aus. Als sie damit fertig war, kamen die beiden wieder. Ilya ließ ein in silbernen Samt gebundenes Buch in seinen Rucksack gleiten, während er eintrat. »So, Erin, wollen wir weiter?«, fragte er.
»Schade, dass ihr nur so wenig Zeit habt«, bedauerte Galadrius. »Ihr solltet gleichwohl noch nebenan bei den Lioburs vorbeischauen, sie haben heute ein paar Leute zu einer Diskussionsrunde da, die könnten für eure Gruppe interessant sein …«
*
Glynis und Seoras Liobur wohnten nur ein wenig weiter den Berg hinauf in einem gepflegteren und vor allem lebendigeren Haus mit frischen Blumen und gefüllten Obstschalen. Auf dem Boden im Flur standen jede Menge Schuhe herum und die Garderobe war übervoll mit Jacken. Sie hatten Besuch von etwa einem Dutzend Leuten, die alle eng gedrängt um den kleinen Küchentisch saßen.
»Hallo!«, riefen sie erfreut aus, als die beiden den Raum betraten. »Na, so eine Ehre, den Cormac zu Besuch zu haben!« Seoras holte sofort zwei weitere Stühle herbei. »Und wen habt ihr noch mitgebracht, eine Elfische?«
»Das ist schonmal richtig«, bestätigte Ilya, »eine Elfische aus Laguna Mar.«
»Tatsächlich?«, staunte Glynis. »Sie sah mir ja schon ein wenig … exotisch aus, aber sonst … genau wie wir, was?«
Sofort war sämtliche Aufmerksamkeit auf Erin gerichtet. Die entspannte Zeit in Brock war nun wirklich vorbei, merkte sie. Sie war wieder das Objekt der Diskussion.
»Mag sein«, warf eine Frau mittleren Alters ein, »dass die Beschreibungen, die man üblicherweise zu hören bekommt, nicht ganz stimmen. Aber irgendeinen Grund muss es doch dafür geben?«
»Ich dachte immer, das sei zu unserem Schutz, damit wir wachsam den Maranern gegenüber sind«, äußerte eine andere, »falls sie sich jemals wieder annähern. Deswegen auch die Geschichten, die sagen, sie wollten uns unterjochen, dass sie den Krieg wieder anfangen würden, fänden sie nur heraus, welche Rohstoffe es bei uns zu holen gibt.«
»Viele haben Angst«, gab ein junger Mann zu. »Man hört hier und da, die Maraner beherrschten eine uns fremde, bösartige Art von Magie.«
Da musste Erin lachen. »Wir beherrschen überhaupt keine Magie.«
Der junge Mann starrte sie verwirrt an und blieb bei ihren spitzen Ohren hängen. »Aber, entschuldigt, Ihr seid doch Elfisch, oder?«
»Ja, das mag sein. Aber in Laguna Mar weiß niemand um die Fähigkeiten der Elfischen. Demzufolge wird auch niemand in der Anwendung von Magie ausgebildet. Das, was Personen, die nach Laguna Mar kommen, allerdings mit Magie verwechseln könnten, ist unsere Technik. Wir verfügen über viele sehr ausgereifte Maschinen, die wir zur Erleichterung unseres Alltags an allen erdenklichen Stellen einsetzen.«
Erin erzählte über ihr Zuhause, und die kleine Gruppe klebte förmlich an ihren Lippen. So kam sie auch nicht umhin, von ihrer Anreise und den Erlebnissen in Vambori zu berichten, davon, wie die Dorfbewohner sie an den Galgen bringen wollten.
»So etwas ist wirklich peinlich!« Glynis schüttelte vehement den Kopf. »Dass es noch solche törichten Menschen gibt!«
»Genau das muss beendet werden!«, forderte der junge Mann von zuvor. »Im Norden wie im Süden. Wenn wir nur wüssten, wie …«
Nun brachte Ilya sich ein. »Es braucht vor allem Zeit und Menschen wie euch. Menschen, die die Wahrheit kennen und sie weitergeben, und Zeit, damit sich die richtigen Informationen verbreiten können und die Leute ihre Meinung ändern. Wir kennen auch noch nicht die Antworten auf alles, aber wir sind dabei, sie zu finden, gemeinsam mit einer Gruppe Gleichgesinnter.«
Er erzählte ein wenig über die KKE und ihre Absichten. Schließlich lud er die gesamte Gruppe ein, beim nächsten Lokaltreffen in ihrer Nähe dabei zu sein. Ilya hatte schon eine lange Liste mit Orten und Zeiten gemeinsam mit den anderen Lembarern, den Gründungsmitgliedern, erstellt. Erin hoffte, dass das gut ging. Natürlich hatte Ilya die Fähigkeit, die groben Absichten anderer Menschen mithilfe mentaler Magie zu erkennen, doch nicht bei allen gelang ihm das fehlerfrei. Darüber hinaus hatten sie verdächtig lange nichts mehr von dieser grauuniformierten Gruppe, der KEN, gehört.
Zweites Kapitel
– AUF DEM FLUSS ELLA –
Später in der Nacht brachen sie auf. Als beide Anker eingeholt waren und sie langsam Fahrt aufnahmen, war für die Gruppe der KKE jedoch keineswegs Ausruhen angesagt.
»So!« Der Kapitän klatschte in die Hände. »Und jetzt setzt die Segel!« Natürlich wusste niemand, was zu tun war.
»Ach, herrje«, schimpfte der Alte und schritt durch die verwirrte Ansammlung an Deck. »Ich habe euch doch zuvor in Gruppen, immer einem Segel zugehörig, eingeteilt. Würdet ihr euch bitte am jeweiligen Segel zusammenfinden?«
»Das würden wir gern …«, gestand Ilya, »doch wir wissen nicht, welches welches ist.«
»Landratten! Muss man euch denn alles erklären?« Der Kapitän stampfte mit dem Fuß auf. »Also, Gruppe Großsegel: Ja, das ist das große hier in der Mitte. Besansegel: an das große hinten, bitte. Klüver: Ihr zwei geht zu dem ganz vorne. Focksegel: zweites Vorsegel. Ja, das, was noch übrig ist. Der Rest kümmert sich um die Seitenschwerter.«
Der Alte ging nun von einer Gruppe zur anderen und erklärte ihnen, was zu tun war. »Seht ihr das hier? Das ist das Fall, damit zieht ihr das Segel hoch. Probiert es aus. Alle zusammen! Kann man sich gut merken, denn wenn ihr loslasst, fällt es wieder runter.« Der Kapitän beäugte all ihre Handlungen kritisch.
»Wer hält eigentlich den Kurs, während Ihr hier erklärt?«, warf Miranda ein. Es war mittlerweile recht auffällig, dass sie sich immer weiter auf das Ufer zubewegten.
»Ah, den Kurs, das macht Whiskey …«
›Nicht schon wieder diese Geschichte!‹, dachte Erin.
Der Alte kratzte sich am Kopf. Miranda starrte ihn mit hochgezogener Augenbraue an. Dann passierte etwas Unerwartetes: Es kam Bewegung auf in dem Chaos, das der Mann als Bart trug! Plötzlich teilten sich die Haare wie ein Vorhang, und ein Vogel linste daraus hervor, ein kleiner Kaninchenkauz. Er wanderte auf die Schulter des Kapitäns, schaute zunächst skeptisch und mit schräggelegtem Kopf in die Runde. Dann sprang er auf, flog in hohem Bogen zum Steuerrad und ließ sich darauf nieder.
»Seht ihr«, sagte der Alte, »Whiskey ist schon zur Stelle.«
Erin war es ein Rätsel. Dieser kleine Vogel sah wirklich nicht so aus, als ob er das große Rad allein bedienen könnte. Trotzdem krallte er sich einfach um das Holz und begann, das Steuer zu drehen, indem er darüber lief. Im Nu war der Kurs korrigiert, und sie bewegten sich wieder vom Ufer weg.
Nachdem alle eingewiesen und die Segel gesetzt waren, hieß es für die meisten von ihnen endlich: Schlafenszeit.
Unter Deck gab es nicht viel Platz. Eine schmale Holztreppe führte hinunter in die Messe. Daran angeschlossen gab es eine kleine Kombüse und einen Lagerraum, eher eine Kammer. An schmalen Fluren rechts und links lagen die Kojen, jeweils mit einem oder zwei Stockbetten ausgestattet.
Ein paar Einzelkabinen gab es noch, die größte hatte der Kapitän für sich beansprucht, eine weitere war Ilya gegeben worden. Melethriel hatte ebenfalls eine bekommen. Felicitas belegte eine Zweierkoje allein, der Rest musste sich mit mal mehr, mal weniger Begeisterung eine teilen. Erin belegte ihre mit Mariah.
Die beiden unterhielten sich vor dem Schlafengehen noch kurz. Mariah wollte wissen, was Erin und Ilya allein in Eldessar gemacht hatten. Sie war neugierig, zu erfahren, ob zwischen Erin und Ilya etwas lief. Erin hatte natürlich nichts dergleichen zu berichten. Seit dem Abschlussfest in Brock waren sie sich nicht mehr nähergekommen. Erin umriss ihre Erlebnisse in Eldessar, lediglich mit der Änderung, dass sie Galadrius als einen Bekannten Ilyas darstellte.
Sie war noch nicht ganz am Ende ihrer Erzählung angelangt, da war von Mariah schon ein leises Schnarchen zu vernehmen, denn Maranes war das leichte Schaukeln eines Schiffes angenehm und geläufig. Erin dachte noch kurz an Ilya, fragte sich, wie er mittlerweile zu ihr stand. Bei ihrem Kuss auf dem Balkon über dem Ballsaal hatte sie das Gefühl gehabt, dass sich etwas verändert hatte, dass er die Barriere, die er um sich errichtet hatte, langsam fallen ließ. Sie seufzte leise, dann glitt auch sie in den Schlaf.
– ILYA –
Ilya hatte es da nicht ganz so leicht. Obwohl er sehr müde war von dem langen und anstrengenden Tag, konnte er nicht einschlafen. Er beschloss, eine kleine Runde zu drehen, ging zunächst nach oben an Deck und lief einmal im Kreis. Niemand war dort bis auf die außergewöhnliche Eule ihres Kapitäns. Whiskey stand nun auf dem Steuerrad, hatte seinen Hals gereckt und schaute sich immer wieder in alle Richtungen um. Jeder Versuch, genauer zu verstehen, was es mit diesem Vogel auf sich hatte, scheiterte. Auf mentaler Ebene kam Ilya einfach nicht an das Tier heran.
Schließlich ging er dazu über, an die Reling gelehnt die vorbeiziehende Landschaft zu betrachten. Viel war nicht zu erkennen in dieser bewölkten Nacht. Die Hügel und gelegentlichen Dörfer lagen allesamt ruhig und vollkommen dunkel da. Ja, eventuell war der Plan des Alten, bereits in der Nacht aufzubrechen, gar nicht so verkehrt gewesen. So konnten sie weitgehend unbemerkt den Fluss hinabgleiten. Sie kamen, wie es schien, auch recht zügig voran. Vielleicht sollte er doch noch mal versuchen, zu schlafen. Wenn nur dieses Geschaukel nicht wäre!
– ERIN –
Wie sich herausstellte, war Ilya nicht der Einzige, der Probleme damit hatte. Am nächsten Morgen bot sich ein sehr geteiltes Bild. Die Maranes waren allesamt fit und ausgeschlafen, weshalb sie beschlossen hatten, das Frühstück für die Gruppe vorzubereiten. Viele der anderen wirkten mürrisch und erschöpft. Hadiya erzählte gar, dass ihre Mitbewohnerin Alima den größten Teil der Nacht über eine Schüssel gebeugt auf dem Boden der Kombüse verbracht habe. Nun schlafe sie endlich.
Die Maranes tauschten besorgte Blicke aus. Wenn es jetzt schon einigen schlecht ging, konnte das noch lustig werden, fuhren sie erst aufs offene Meer hinaus.
Laut den Aussagen des Kapitäns würde es bei der aktuellen Geschwindigkeit von acht Knoten nur bis zum Abend dauern, bis sie Eridania, die Stadt an der Flussmündung, erreicht hatten. Elandur, die nächste größere Stadt, sollten sie bereits vorher, am frühen Nachmittag, passieren. Für die Nordstaatlerinnen und Nordstaatler war das Reisen im Express-Tempo, für die Maranes dagegen irgendetwas zwischen entspannt und todlangweilig. Aber sie hatten ja erstmal zu tun.
Erin stellte fest, dass sie ihre Frühstücksbrötchen selbst backen mussten. Lediglich die Zutaten waren vorhanden. Das war natürlich eine Herausforderung, hatten sie das doch nur ein einziges Mal, bei ihrem Ausflug in die altmaranische Villa, gemacht.
»Stimmt es, dass Maranes nie selbst kochen oder backen?«, fragte Hadiya, »dass ihr euer Essen ausschließlich von Robotern zubereiten lasst?«
»Prinzipiell schon«, gab Felicitas zu, »aber ihr braucht euch keine Sorgen um unser Frühstück zu machen, denn wir kennen ein Rezept für traditionelle maranische Brötchen.«
»Wie ist das bei euch in Jawhara, Hadiya?«, fragte Mariah. »Kocht ihr selbst?«
»Oh ja. Kochen hat bei uns eine lange Tradition und wird oft zelebriert. Wir könnten es natürlich auch von Automaten erledigen lassen, aber nichts läge uns ferner.«
Erin fiel auf, dass sie bisher noch gar nicht die Gelegenheit gehabt hatte, sich in aller Ruhe mit den Jawharanes auszutauschen. Nun, jetzt hatten sie eine Menge Zeit: vier bis sieben Tage, bis sie die Grenze zu Laguna Mar überqueren würden, ganz abhängig vom Wind. Bei einer Flaute konnte es sogar noch deutlich länger dauern.
Die Route hatte Felicitas mit Thelal und der Gruppe bereits in Brock geplant. Sie wollten Avanindra in Küstennähe umrunden und dann etwas weiter hinausfahren, um die Seegrenze mit der entsprechenden Mauer weitab von den Küstenstädten zu überqueren. Laut Felicitas war dieser Übergang genauso verlassen und unbewacht wie der in den Bergen, über den sie nach Agambea gekommen waren. Das hoffte Erin ebenso inständig, wie dass ihr altes Boot von keinem Überwachungssystem erfasst werden würde und sie es problemlos bis auf die weitgehend unbewohnte Insel Saturia schaffen würden. Dort wollten sie das Schiff bis zu ihrer Weiterreise nach Jawhara verstecken. So jedenfalls der Plan.
– AUF DER ZAMZAMAH –
Der erste Tag verlief wirklich gut, wie geplant waren sie abends in Eridania. Sie machten keinen Halt, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, und so konnte Erin die Küstenstadt nur vom Schiff aus bewundern. Sie musste riesig sein und bestand aus unzähligen kleinen Holzhäusern auf Stelzen. Viele Kanäle führten vom Hauptstrom des Ella ab und waren intensiv von kleinen Booten befahren. Auch ein paar größere Schiffe gab es hier, Handelsschiffe, die zwischen den Küstenstädten des Nordens hin und her fuhren. Es war eine sehr betriebsame und geschäftige Stadt. Derartige Orte sollten sie in den nächsten Tagen vermissen.
Als sie aufs Meer hinausfuhren, waren sie noch bester Dinge. Sobald die Küste jedoch nicht mehr zu sehen war, wurde manchen mulmig.
Am nächsten Tag trug noch etwas zur Verschlechterung der allgemeinen Stimmung bei: Sie gerieten in eine dicke, schier undurchdringliche Nebelwand und nun war auch der Horizont nicht mehr auszumachen. Zeitweise konnte man nicht mal mehr vom einen bis zum anderen Ende des Schiffes sehen.
Zum Glück für diejenigen mit Magenproblemen hatte der Seegang nachgelassen, doch das bedeutete auch, dass der Wind schwächer war und sie kaum noch vorwärtskamen.
So ging es drei Tage lang und Felicitas wurde ungeduldig.
Am vierten Tag ging sie schließlich zu Ilya und fragte ihn, ob er nicht ein wenig Wind heraufbeschwören könne.
Er war nicht begeistert von der Idee, doch dieser ewig weiße Vorhang schlug ihm mittlerweile ebenfalls aufs Gemüt. So versprach er, sich die Sache einmal anzusehen.
– ERIN –
Erin hatte sich am Bug des Schiffes etwas resigniert über die Reling gelehnt und schaute hinunter aufs Wasser. Oder dorthin, wo es sein sollte, denn inzwischen war der Nebel so dicht geworden, dass man nicht mal mehr einen Meter weit sehen konnte. Sie hörte es plätschern, sah aber nur weiß. So ein Wetter kannte man in Laguna Mar nicht, es war frustrierend! Selbst die Orientierung an Deck wurde schwierig, man konnte sich eigentlich nur langsam an der Reling entlanghangeln. Die anderen saßen die meiste Zeit in der Messe und beschäftigten sich mit Kartenspielen.
Erin richtete sich auf, als plötzlich ein kühler Windzug kam. Sie zog ihren Mantel enger um sich. Einzelne Verwirbelungen waren nun zu sehen und es schien fast, als würde der Schleier aufreißen. Der Wind wurde stärker. Eine Bö gab kurz den Blick auf die Wasseroberfläche frei, doch der Nebel machte gleich wieder dicht. Eine weitere Bö brachte große, dicke Wassertropfen mit sich. Dann war es plötzlich still. Erin hörte nur noch das gleichmäßige Plätschern des Wassers und spürte die feinen Tropfen auf der Haut. Einige Strähnen ihrer Haare hatten sich zu Korkenzieherlocken gekräuselt.
Es war zu still, geradezu bedrückend. Verwundert schaute sie sich um und dann kam es ihr direkt entgegen. Die Windbö war so stark, dass Erin gegen die Reling geworfen wurde. Das Schiff neigte sich, Wasser spritzte auf. Sie konnte sich gerade noch festklammern.
Es pfiff und tobte, zog in alle Spalten und ließ die Luke zum Rumpf zuschlagen. Ein unheimliches Knarzen ging durch das Schiff und Erin wurden ganze Eimerladungen an Wasser ins Gesicht gepeitscht. Sie erschrak fürchterlich, als etwas in der Luft an ihr vorbeisauste. Dann realisierte sie, dass es Whiskey sein musste. Schon war der kleine Vogel wieder außer Sicht. Er hatte ja kaum eine Chance, gegen diesen Sturm anzukommen! Erin arbeitete sich an das Schiffsgeländer geklammert zum Heck vor, wo sie Ilya zuletzt gesehen hatte.
Der Seegang hatte stark zugenommen. Sie gerieten immer wieder auf einen Wellenberg und sanken dann ins nächste Wellental ab, wobei sich der halbe Ozean über Deck ergoss. Auf halbem Weg begegnete sie ihrem Kapitän.
»Hol die anderen hoch«, rief er ihr über das Tosen hinweg zu, »wir müssen beidrehen und die Segel einholen!« Dann war er auch schon an ihr vorbei und nicht mehr zu sehen.
Erin war unschlüssig, ob sie seine Anweisungen befolgen sollte, denn sie hatte die Vermutung, das Problem ließe sich auch lösen, wenn sie Ilya fand. War er nicht damit beauftragt worden, Wind zu machen? Andererseits hatte er sicher längst festgestellt, dass das hier zu viel des Guten war, und damit aufgehört. Aber dann war er vielleicht in Gefahr! Nun, er würde klarkommen, hoffentlich. Sie arbeitete sich weiter zu der Luke vor, die in die Messe hinunterführte. Einiges an Kraft musste sie aufwenden, um die Klappe bei dem Wind überhaupt aufzubekommen. Hinter ihr schlug sie sofort wieder zu. Die Treppe war nass und rutschig von eingetretenem Wasser. Unten bot sich ein verheerendes Bild. Einige saßen über Eimer gebeugt auf dem Boden, andere sahen ziemlich verängstigt aus oder hielten sich krampfhaft an den Einbaubänken fest. Die wenigen, denen es noch einigermaßen gut ging, versuchten, die anderen zu beruhigen. Es sah nicht so aus, als könnte hier noch jemand helfen. Aber sie musste es probieren. »Der Kapitän braucht uns oben!«, rief sie. »Wir müssen die Segel einholen!«
»Ich geh da nicht raus«, sagte Miranda, während sie abwesend vor sich hinstarrte. Alima blickte nur kurz von ihrem Eimer auf und konzentrierte sich dann erneut auf andere Dinge. Immerhin: Mariah und Felicitas machten Anstalten, hochzugehen.
Mehr konnte sie hier nicht tun. Erin begab sich wieder auf den Weg zum Heck des Schiffes. Der Nebel war mittlerweile einer Wand aus Regen gewichen. Weiter vorne erahnte sie schemenhaft zwei Gestalten. Als sie näherkam, erkannte sie Ilya und Sadwen.
»Hör auf damit!«, schrie Sadwen. »Bist du denn wahnsinnig?«
»Sieh dich vor!«, warnte Ilya. »Ich versuche nur, es aufzuhalten! Wag es nicht, mich zu hindern!«
Das hatte Sadwen offenbar vor, denn er lief nun auf Ilya zu. Der wiederum hob nur seine Hand und im nächsten Moment wurde Sadwen durch die Luft geschleudert. Er landete hart auf den Planken und schlitterte ein Stück weit, bis er gegen die Reling stieß.
»Hört auf!«, schrie Erin. »Alle beide!«
Im nächsten Moment erfasste eine seitliche Welle das Schiff und riss sie alle von den Füßen. Erin bekam irgendetwas zu greifen und hielt sich fest. Sie lagen plötzlich verdammt schief.
»Whiskey, die Taue fieren!«, schrie der Alte, wie aus weiter Ferne. Er hatte wohl noch nicht gemerkt, dass sein Vogel längst vom Winde verweht war.
Das Schiff richtete sich wieder auf. Langsam wurde es auch Erin zu bunt, sie schaukelten jetzt im Kreis herum. Besorgt schaute sie sich nach den anderen um. Da war Ilya, an einen Mast geklammert. Der Kapitän stand, als wäre nichts gewesen. Von Sadwen dagegen keine Spur. Sie schaute sich in alle Richtungen um und sah noch etwas anderes: War das etwa Whiskey? Ja, er war es, dieser verrückte Vogel! Er flatterte in der Luft, während er versuchte, eines der Taue durchzubeißen! Offenbar hatte er es schon einmal geschafft, denn eines der Vorsegel war bereits unten. Zack, auch das zweite Segel schnellte runter. Der kleine Vogel flitzte nun in einem Mordstempo auf Erin zu. Was hatte er vor?
Er landete auf dem Steuerrad, an dessen Basis sie sich festhielt, und riss es – mit seinen Krallen um das Holz geklammert und den Flügeln in der Luft flatternd – herum. Sofort schossen sie mit dem Bug durch die Wellen. Der Wind erfasste das verbliebene Segel und versuchte, das Schiff weiter herumzudrücken, doch Whiskey hatte das Steuerrad schon wieder in die andere Richtung gedreht und sie stabilisierten sich. Trotz des Sturms schaukelten sie nur noch auf und ab.
Der Kapitän hatte mittlerweile auch das Besansegel eingeholt und das Großsegel stark gerefft. Er trottete mürrisch aber zielstrebig auf das Steuerrad zu. »Alles muss man selber machen«, meckerte er. »Aber du warst super, Whiskey, jetzt darfst du dich ausruhen.« Der Vogel hüpfte auf seine Schulter und verschwand in dem Bart, der ihm wohl als Unterschlupf diente.
Erin, die noch immer auf dem Boden lag, beachtete keiner. Sie rappelte sich auf und schaute sich um.
Da waren sie wieder beide: Ilya und Sadwen. Sie standen sich gegenüber und funkelten sich böse an.
»Lässt du mich jetzt endlich etwas gegen diesen Sturm unternehmen?«, fragte Ilya.
»Du hast ihn doch überhaupt erst heraufbeschworen«, zischte Sadwen.
»Ich war es nicht. Jetzt lass mich.«
»Dazu müsste ich dir über den Weg trauen!«
»Hört doch auf zu streiten«, schrie Erin. Sie machte einen wackeligen Schritt auf die beiden zu. Es war noch immer schwer, auf den Beinen zu bleiben, bei dem Hoch und Runter. »Ich denke nicht, dass Ilya einen Grund hätte, einen Sturm heraufzubeschwören, der uns alle in Gefahr bringt«, sagte sie zu Sadwen.
»Das sollte man eigentlich von jedem hier an Bord denken«, entgegnete der mit Nachdruck. »Trotzdem hat es jemand getan, und mir fällt nur einer ein, der dazu fähig wäre.«
»Gut, das mag sein«, gab Ilya zu. »Aber klären wir dieses scheinbare Problem doch später, ja?«
Sadwen funkelte ihn böse an, sagte aber nichts mehr.
Ilya hob nun den Zauberstab seines Vaters in die Höhe und murmelte ein paar unverständliche Worte. Die Luft begann zu knistern und die dunklen Regenwolken wurden strudelförmig in den Stab gesaugt. Es wurde immer heller und das Pfeifen hörte auf. Was blieb, war das gleichmäßige Rauschen eines leichten Seewindes. Der Regen hatte aufgehört und der Himmel war mit einer homogenen weißen Wolkendecke verhangen. Fürs Erste war der Spuk vorbei.
– ILYA –
Ilya hatte den ersten vereinbarten Termin zur Kontaktaufnahme mit Eryl und Keryl, den Sekretärinnen von Thelal, leider aufgrund des Unwetters verpasst. Nun stand ihr Ersatztermin an und er hatte sich dazu in seine Kabine zurückgezogen.
Die mentale Kontaktaufnahme mit anderen Magiern war ohnehin nicht seine Stärke und er fürchtete, dass er sich wieder etwas von den beiden würde anhören müssen. Aber es brachte ja nichts, es weiter aufzuschieben!
Er setzte sich also auf sein Bett, stützte den Kopf in die Hände und konzentrierte sich, visualisierte die beiden. Es dauerte keine Sekunde, da tauchte eine Präsenz in seinem Kopf auf, eine doppelte.
»Hallo Ilya«, sagten die beiden, »wir haben uns schon Sorgen gemacht!«
Er berichtete von dem plötzlichen Sturm und seiner Vermutung, jemand wolle ihre Reise sabotieren und ihn vor der Gruppe als den Schuldigen darstellen. Die Zwillinge hörten und schauten aufmerksam zu.
»Wir glauben trotz allem nicht, dass euch jemand wirklich böse gesonnen ist«, bewerteten sie das Geschehen. »Wenn es einen Verräter gibt, dann ist es dieser nur mit halbem Herzen.«
›Was auch immer‹, dachte sich Ilya. Ups, das hätten die beiden eigentlich nicht mitbekommen sollen!
Sie übergingen seinen bissigen Kommentar jedoch professionell und berichteten ihre Neuigkeiten von Thelal: Eine Gruppe um den Elfischen Caydem Triadocos hatte sich mit Vertretern der KEN getroffen. Sie hatten leider nichts Gutes zu berichten, im Gegenteil.
Die KEN hatten vorgeschlagen, dass die KKE sich ihnen anschloss. Sie sollten alle auf dem untersten Rang, dem von Neumitgliedern, einsteigen – sogar Thelal selbst. Sollten sie dies nicht tun und sollte die KKE weiter fortbestehen, würden sie diese offiziell zu ihrem Feind erklären.
An diesem Punkt spielte es keine Rolle mehr, wie gut die Absichten dieser Gruppe angeblich waren – woran ebenfalls Zweifel bestanden. Unter diesen Bedingungen mussten sie ablehnen.
Die KEN hatten Caydem und seine Gruppe noch einmal gehen lassen, unter der Bedingung, dass sie Thelal ihr Angebot unterbreiteten. Doch sie hatten auch gedroht, ihnen nicht noch einmal so freundlich zu begegnen, sollte die Antwort negativ ausfallen.
Ilya war besorgt. Eine Gruppe, die sie offiziell zu ihrem Feind erklärte, war nun wirklich das Letzte, was sie brauchen konnten, erst recht eine, die so skrupellos war und sich so schnell ausbreitete! Das alles ließ es fast folgerichtig erscheinen, die KKE aufzulösen.
Wenn da nicht eine Sache gewesen wäre: Wer würde sich denen dann noch in den Weg stellen? Vielleicht musste die KKE die Liste ihrer Ziele um einen Punkt erweitern: Die KEN aufhalten.